
URL: http://www.javajim.de/theorietank/usability/interview_bucher.html
Websites erfordern mehr als ein beeindruckendes Design.
Hans-Jürgen Bucher, Professor für Medienwissenschaft, spricht mit JavaJim über die Orientierung im Cyberspace, Gestalt-Prinzipien und Öko-Gefrierschränke bei Quelle.de.
Welche Erfahrungen haben Sie in Ihren Usability-Untersuchungen gemacht?
Die Hauptquelle für viele Navigationsprobleme sind schlechte Strukturierungen
des Angebotes. Auf diesen Mangel lassen sich eine ganze Reihe von
Schwierigkeiten zurückführen, an denen Nutzer scheitern. Eine Site, deren
Architektur nicht durchdacht ist, kann kein kohärentes Navigationssystem
anbieten, die Zusammenhänge zwischen den Angebotsteilen sind nicht
nachvollziehbar, Gewichtungen auf der Einstiegsseite fehlen, und eine logische
Sitemap ist so schon gar nicht zu generieren. Deshalb gilt: Erst kommt das
Strukturieren, dann das Designen.
Die Gebrauchsanweisung einer Zeitung ist einfach: Blättern. Welche
Anweisungen braucht der User im Internet und wie interagiert er mit einer Website?
Der Begriff der Interaktion sagt eigentlich schon alles: Der Nutzer unterstellt
auf der Angebotsseite eine Art virtuellen Kommunikationspartner, dessen Aktionen
logisch nachvollziehbar und vorhersehbar sein sollen. Wenn das Angebot
abweichend, inkohärent "reagiert", führt das zur Verwirrung beim Nutzer, bis hin
zum Kommunikationsabbruch. Angenommen ein Gesprächspartner würde auf die Frage
"Wie spät ist es?" mit der Äußerung reagieren "Das Gras ist grün", würden wir das
Gespräch vermutlich relativ schnell beenden. Dasselbe passiert im Normalfall
wenn wir mit Angebotsseiten konfrontiert sind, die wir nicht in den Zusammenhang
unseres Navigationspfades einordnen können. Da solche Unverträglichkeiten in
Webangeboten allerdings relativ häufig vorkommen, haben wir uns bereits daran
gewöhnt und versuchen, uns trotzdem einen Reim darauf zu machen. Entscheidend für
eine selbstbestimmte, kohärente und zielgerichtete Navigation sind folgende
Gestaltungselemente: ein überschaubares Navigationssystem, verständliche
Linkkennzeichnungen, die klar sagen, wohin die Absprungstelle führt,
übersichtliche Seitengestaltung und klare Seitenbezeichnungen.
Denken Sie, dass die Orientierung im Cyberspace universellen Regeln folgt?
DIch denke, dass die Gestalttheorie und die Kommunikationstheorie tatsächlich
einige solcher allgemeingültiger Regeln entdeckt haben, die überall da gelten,
wo Menschen einen Kommunikationszusammenhang erkennen müssen: Immer wenn es um
Fragen der Kohärenz geht, sind solche Prinzipien wirksam: Beispielsweise das
Prinzip der Relevanz, das Prinzip der Informativität oder das Prinzip der
Verständlichkeit. Vor allem für den Bereich der visuellen Kohärenz hat die
Gestalttheorie eine ganze Reihe von Prinzipien formuliert, wie das Prinzip der
Nähe - was nahe zusammensteht, wird auch in einen Zusammenhang gebracht - das
Prinzip der Ähnlichkeit oder das Prinzip der logischen Fortsetzung. Das
gestalttheoretische Prinzip der Unterscheidung von Hintergrund und Vordergrund
ist für die Wahrnehmung einer Website in besonderer Weise entscheidend:
Grundlegend für das Verständnis einer Seite ist die Unterscheidung, was
seitenspezifischer Content-Teil ist und was zum Navigationshintergrund gehört,
der für eine ganze Reihe verschiedener Seiten gleich bleiben kann.
Welches sind die drei wichtigsten Regeln, die ein Internetangebot
beachten sollte?
Wenn man die typischen Orientierungs-Wo-Fragen des Webnutzers nimmt "Wo bin ich?",
"Wo komme ich her?", "Wo kann ich hin?", so könnte man drei goldene Regeln für Webdesign formulieren: 1. Tu alles, um dem Nutzer jederzeit eine
Standortbestimmung zu ermöglichen. 2. Stelle sicher, dass der Nutzer
rekonstruieren kann, wie er zu seinem aktuellen Standort gekommen ist. Und 3.
Sorge dafür, dass ein Nutzer begründete Hypothesen bilden kann, wie es weiter
geht - und sorge vor allem dafür, dass seine Erwartungen nicht enttäuscht werden.
Webangebote sind oft trotz schlechter Benutzerführung äußerst erfolgreich
und beliebt. Haben die User eine hohe Frustrationstoleranz? Ist Markentreue
wichtiger als Usability?
Solche Befunde sind eigentlich ganz tröstlich, denn sie zeigen: Der Content
spielt eine entscheidende Rolle für die Nutzung eines Mediums. Deshalb florieren im
Printbereich Fossile wie die FAZ, obwohl gleichzeitig so aufwendig gestaltete
Blätter wie die "Woche" von der Society for Newsdesign als weltbeste Zeitung
prämiert werden. Ich bin sicher, dass Markentreue ohne entsprechendes
Content-Angebot keinen dauerhaften Bestand hat.
Die großen Marken im Netz werden mit jedem Relaunch komplexer, das Design
verschwenderischer (jüngstes Beispiel RTL). Ist es nicht paradox, dass wir mehr zu Usability wissen, der User aber immer noch nicht in den Mittelpunkt gestellt wird?
Das hängt damit zusammen, dass bei der Gestaltung von Webangeboten vielfach die
Programmierer das Sagen haben. Hinzu kommt, dass oft noch keine Vorstellungen bei
den Anbietern vorhanden sind, welche Kommunikationszwecke sie mit ihrem Angebot
verfolgen. Die Konkurrenz-Situation, insbesondere im E-Business-Bereich, wird
aber Usability-Fragen künftig stärker in den Fokus rücken.
Viele Marken haben bei ihrem ersten Webauftritt noch mit einer Metapher
gearbeitet
(z.B. Cockpit beim Stern). Heute nähern sich die Angebote in ihrem
Grunddesign immer
stärker an. Beginnen sich im Internet nach einer Experimentierphase
bestimmte
Darstellungsformen zu etablieren?
Medienhistorisch betrachtet wäre es verwunderlich, wenn sich keine
Standardisierungen in der Gestaltung von Online-Angeboten herausbilden würden.
Dieser Prozess der Standardisierung lässt sich jedenfalls in der Geschichte des
Zeitungslayouts ebenso beobachten wie in der Entwicklung von Fernseh- und
Hörfunkformaten. En dynamischer Faktor ist allerdings die software-technische
Entwicklung: Neue Gestaltungsmöglichkeiten werden eingesetzt und müssen erprobt
werden. Eine Studie hat gezeigt, dass Online-Nutzer bereits Wahrnehmungsmuster
für Webseiten ausgebildet haben, beispielsweise was die Platzierung von
Navigationsleiste, Seitenkennung und Content angeht. Es wäre äußerst unklug,
permanent gegen solche Wahrnehmungsgewohnheiten zu verstoßen. Das soll aber
kein Plädoyer gegen innovative Darstellungsformen sein.
Das Netz wird immer verspielter - Millionenbeträge werden in
(vermeintlich)
prestigeträchtige Erlebnis-Elemente investiert, wie Flash, Animationen,
Streams. Hat
die solide, rein funktionale Navigation ausgedient? Will der User lieber
"entdecken"
und sich überwältigen lassen?
Natürlich muss man hier antworten: Das kommt ganz darauf an. Wer ins Kino geht,
will überrascht werden, wer die Tagesschau einschaltet, will informiert werden.
Die Gewichtung von Unterhaltung, Überraschung, Information, Ästhetik ist immer
eine Frage der Kommunikationsabsichten, die mit einer Website verfolgt werden.
Wer im Quelle-Katalog einen bestimmten Artikel sucht, braucht keine
Flash-Animation sondern eine vernünftige Suchfunktion. Und wer die
Tagesergebnisse der 12. Vuelta-Etappe erfahren will, ist genervt, wenn er eine
aufwendige Vorschaltseite über sich ergehen lassen muss. Grundsätzlich gilt: bei
allen Befragungen von Online-Nutzern - auch in den Trierer Rezeptionsstudien -
wird die Suche nach Information als der überwiegende Nutzungsgrund für das
Internet angegeben.
Welches ist Ihre Lieblingswebsite?
Derzeit eindeutig die www.125jahretv.de, weil das Kind nach neun Monaten endlich
auf die Welt gekommen ist. So lange hat ein Projekt von Studierenden und
Lehrenden des Faches Medienwissenschaft nämlich gedauert, bis das
Multimedia-Angebot zum 125jährigen Jubiläum des Trierischen Volksfreundes
endlich online ist.
Welche Site hat Ihrer Meinung nach eine vorbildliche Benutzerführung?
Viele Tageszeitungen ganz besonders aber der Bonner Generalanzeiger.
Aufwendiger, aber ebenfalls sehr intuitiv, ist die Benutzerführung beim
Independent und der Chicago Tribune. Wer sich selbst mal testen will, sollte
versuchen, im Quelle-Angebot einen Öko-Gefrierschrank zu finden.
(die Fragen stellte Heike Edinger)
Infos zur Person:
Hans-Jürgen Bucher ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Trier. Er forscht seit 1997 im Bereich Usability.
Projekte:
Seit 1997 hat Hans-Jürgen Bucher für die folgenden Online-Angebote Rezeptionsstudien durchgeführt:
Südwestfunk, Handelsblatt, Südwestrundfunk, ARD,
N24, sowie den Online-Kanal der ARD.
Bei allen Untersuchungen wurden als Vergleich auch verschiedene Tageszeitungen, auch internationale, mituntersucht, so daß auch Befunde
zu allen großen Tageszeitungen und Nachrichtenmagazinen vorliegen.
Publikationen:
-- Hans-Jürgen Bucher: "Vom Textdesign zum Hypertext. Gedruckte und
elektronische Zeitungen als nicht-lineare Medien." In: Werner Holly: Medien im Wandel. Westdeutscher Verlag, 1998.
-- Hans-Jürgen Bucher: "Die Zeitung als Hypertext. Verstehensprobleme
und Gestaltungsprinzipien für Online-Zeitungen." In: Henning Lobin: Text im digitalen Medium. Westdeutscher Verlag, 1999.
-- Hans-Jürgen Bucher: "Formulieren oder Visualisieren? Multimodalität
in der Medienkommunikation." In: Festschrift für Hans Ramge. Tübingen,
2000.
-- Hans-Jürgen Bucher: "Publizistische Qualität im Internet:
Rezeptionsforschung für die Praxis." In: Klaus Altmeppen: Onlinejournalismus. Wiesbaden,
2000.
-- Hans-Jürgen Bucher: "Interaktiv oder selektiv? Eine Streifrage im
Lichte empirischer Befunde der Online-Rezeptionsforschung." In: Hans-Jürgen Bucher: Die Zeitung im Spannungsfeld von Print und Digitalisierung. Wiesbaden, 2000.
Die einzelnen Projektberichte sind nicht veröffentlicht.
mehr zur Person unter: http://medien.uni-trier.de/mitarbeiter/professoren.html
Links zum Thema:
-- 125 Jahre Trierischer Volksfreund: http://www.125jahretv.de
-- Bonner Generalanzeiger: http://www.general-anzeiger-bonn.de/
-- Independent: http://www.independent.co.uk
-- Chicago Tribune: http://www.chicagotribune.com
Zuletzt aktualisiert am: 17.09.2000
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