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Als ich neulich das neue Video der Pet Shop Boys "Home And Dry" sah, war ich überrascht: Nur drei Mäuse auf den U-Bahn-Schienen Londons und ein altes Brötchen. Ich musste daran denken, wie es war, als in den 90er-Jahren die Innovationsdynamik der Musikvideos eskalierte und mit Aphex Twin kollabierte.
In den guten und repräsentativen Videos der 90er zeigt sich die allmähliche Poetologisierung der Popkultur, die damals ihren Höhepunkt erreichte, am deutlichsten. Alle fraßen Poptheorie. Und am sensibelsten dafür waren wohl wir im spexverseuchten Deutschland. Zeit für ein wenig Retrogewandness. "Godspeed!"
Hinter dem Künstlernamen Aphex Twin verbirgt sich der DJ und Musiker Richard James, der sich zeitweise auch schon Polygon Window, Dice Man, Caustic Window oder AFX nannte. Darin äussert sich schon ein freizügiger Umgang mit Identität und deren Verknüpfung mit Computertechnologie und zugleich eine bewusste Distanzierung von einer konsistenten Autoreninstanz. Seine Tracks und Videos sind charakteristisch für ein Kulturschaffen nicht als politische Notwendigkeit oder soziale Kritik, sondern als eine konzeptuelle Affirmation der Entmenschlichung durch Technologie, einer Verfremdung durch übersteigerte Technologie und einer Vermittlung der Fragwürdigkeit von Identität.
der Song: contra Popschema
Der dem Video zugrunde liegende Song entspricht keinem klassischem Popsongschema mit Strophen und Refrains und fügt sich keiner gängigen Stildefinition. In der Popkultur Ende der 90er gibt es kein Entweder-Oder der Stile, sondern ein Sowohl-Als-Auch, kein Verschmelzen der Gegensätze, sondern ihre Kontrastierung. Crossover, die ständige Entgrenzung der Stile, die seit Mitte der 80er Jahre ausgehend von der Subkultur den Pop beherrscht, ist auch im Mainstream in vollem Gang. Es besteht ein riesiges Universum von Mikrostilen, im Falle von Aphex Twin sogar innerhalb des Schaffens eines Künstlers. Auf seinen Alben "I Care Because You Do" (1995) und "Richard D. James" (1996) erfordert nahezu jeder Track eine eigene neue Stilbezeichnung, so auch "Come To Daddy". Es zeigt sich hierin, nicht zuletzt als eine Folge der Musikvideos, ein subversives Nebeneinanderplazieren und Verwischen von Identitäten, die zusammen mit einer ausgeprägten medialen Selbstreferentialität thematisiert werden.
das Video: contra Identifaktionsmodell
In einem eindeutig durch Großstadtversatzstücke wie Hochhaus und Tiefgarage charakterisierten Areal nimmt eine Horde von Kindern, die in grotesker Weise unabhängig von Geschlecht und Alter das Gesicht von Aphex Twin tragen, einen Fernseher an sich, in dem ein verzerrtes Gesicht - ebenfalls das des Künstlers - mit verzerrter Stimme die Worte "I want your soul, I need your soul" sing. Zuvor haben sie beobachtet, wie eine alte Frau durch die Fratze auf dem Bildschirmn, der in einem Haufen Abfall herumliegt und plötzlich aufflackert, in Panik versetzt wurde. Die Mitglieder der Bande erscheinen mit dem Kopf eines Erwachsenen wie Liliputaner, sind jedoch doch ihre Kleidung als Kinder/ Jugendliche gekennzeichnet. Verstörend sind die identischen aufmontierten Gesichter, die nicht als Masken zu durchschauen sind. Lärmend und randalierend tragen sie den flackernden und weiterhin schreienden Fernseher vor sich her und attackieren einen Autofahrer, den sie zunächst durch Steinwürfe, dann durch ihr Grinsen und das Herzeigen des Fernsehers in Angst und Schrecken versetzen. Einer der Gnome vollführt anschließend einen seltsamen, obszönen Tanz, und es folgt ein mit einer Kindermelodie unterlegtes Intermezzo, in dem zwei der Gestalten in Zeitlupe und händchenhaltend aus einer Garage hüpfen. Das Kinderlied steht in größtmöglichen Gegensatz zu der eigentlichen Musik des Clips, einer rasenden Mischung aus Industrial, Drum'n'Bass und Hardcorepunk. Als diese wieder einsetzt, beginnen einige der Kinder sich gegenseitig zu attackieren. Nach weiterem Randalieren, das sich auf Mülltonnen und herumliegenden Unrat erstreckt, und einem langgezogenen Schrei des Sängers im Fernseher endet der narrative Teil des Videos. Es ist nur noch der bizarre Tanz eines geschlechtslosen Wesens mit einem grotesk abgemagerten Körper, der in abstrakt blitzartigen Sequenzen montiert ist, zu sehen.
Störung von Bildern und Identität
Die Homogenität des Clips, die sich in einer durchgängigen Ästhetik verwahrloster Vorstädte, einer Atmosphäre des Grauens und der Verstörung (Die schwarzen Ränder sind eine Allusion an das übliche Kinoformat, was mit dem horrorfilmähnlichen Gesamteindruck des Videos korrespondiert) und einer einheitlichen Farbaussteuerung, die Rot- und Gelbtöne weitgehend herausfiltert, bildet, wird durch kalkulierte Bildstörungen immer wieder aufgehoben und damit ein verweisender Bezug zum Medium geschaffen. Die Montage der Bilder richtet sich nicht nur auf das Arrangieren von Schnittsequenzen, sondern findet gleichsam direkt in den dargestellten Körpern statt: Allen Kindern der Horde ist ein identisches, fratzenhaftes Gesicht des Künstlers aufmontiert. Sie werden damit zu quasi geschlechtslosen Gnomen, deren Geschlechtszuschreibung nur durch Bekleidungsattribute vorgenommen werden kann. Durch das Identische der Kinder wird das erzieherische Ideal des unverwechselbaren Individuums negiert und gleichzeitig das stereotypisierte Bild der Massenmedien vom jugendlichen Gewalttäter persifliert. Diese Stereotypie wird in Beziehung zu dem verzerrten Gesicht des Künstlers in dem Fernseher gesetzt. Ohne explizit oder moralisch darauf hinzuweisen, wird eine Verbindung geschaffen zwischen der technischen Verfremdung des Menschen in und durch die Medien und den ebenfalls medial vermittelten angeblichen Folgen davon. Durch das Erscheinungsbild der Kinderbande wird Subjektbildung und festgeschriebene Identität eliminiert, andererseits wird im Text nach der Seele, die ja allemal die Essenz des Subjekts ist, verlangt.
der Rattenfänger von MTV
Diese geforderte Verfügung über die nicht vorhandenen Seelen der Kinder resultiert in einer absurden Inszenierung des Rattenfängermotivs, das im Zusammenhang mit der Thematik von Auswirkungen kindlichem Medienkonsums steht, in dessen Zusammenhang dem Fernseher ja immer wieder unterstellt wird, er fungiere zugleich als Ersatz für die Eltern ("Come To Daddy") und als Verführer und Verderber der Kinder. Das Video thematisiert also unter anderem auch den Konnex zwischen Gewalt und technischen Bildmedien, weicht jedoch in mehreren Aspekten von einem platten, boulevardblatthaften Analogschluss ab und bricht diesen mehrfach. Es wird ein nichtwertender Zusammenhang zwischen der Verfügung über die den Menschen verfremdende Technologie und Machtausübung hergestellt, denn immerhin greifen die Kinder jemanden an, der eigentlich größer und stärker ist als sie und erschrecken ihn mit ihren Gesichtern und dem Fernseher.
Offenlegung der Produktion
Die Künstleridentität vervielfacht sich durch Tricktechnik und interagiert durch Montage über verschiedene Darstellungsinstanzen mit sich selbst. Es gibt eine Offenlegung der Produktionsbedingungen und damit eine Verfügung über diese, wenn sich beispielsweise die zum Drehen in der Tiefgarage notwendigen Scheinwerfer im Fernseher spiegeln. Das Auftauchen des Wesens im Schlussteil des Videos ist semantisch nicht erklärbar und deutet sich nicht durch interne Strukturzwänge an. Es ist einzig festzustellen, dass der narrative Teil zu einem Ende kommt, ebenso wie die Präsenz der Kinder, die durch ihre Dynamik und die ihnen wesenhafte Entwicklungspotenz die Narration auch mitverbürgen. Es dominiert statt dessen ein formalistisches Prinzip, das sich in dem nicht-expressiven Tanz, den Blitzschnitten, der Verflüchtigung einer festschreibbaren Örtlichkeit durch wechselnde Hintergründe und einer perfekten Übereinstimmung zwischen Ton- und Bildrhythmus sowie zwischen den peitschenähnlichen Sounds und den Bildern von geschleuderten Wasserperlen äussert. Zusätzlich blitzen orangefarbene Flecken, eben die Farbe, die bis dahin herausgefiltert war, auf, während die allgemeine Farbe des Videos die einer in Fernsehlicht getauchten Szenerie ist. Nur in Hinsicht auf diese neuen Elemente, die das das Auftauchen der abgemagerten Gestalt begleiten, ist dieses als die Genese eines neuen Wesens zu deuten. Dieses Wesen ist nur noch als medial existent ausgewiesen.
Die Referenz auf das eigene Medium geht in "Come To Daddy" soweit, dass mitunter Störungen, die in keinster Weise als clipimmanent gekennzeichnet sind, als rein technische Phänomene auf den Fernsehers des Zuschauers überzugehen scheinen. Sie sind erst einmal nicht zu unterscheiden von einem real vorhandenen defekten Antennenanschluss oder ähnlichem. Dieser vermeintliche Defekt des eigenen Fernsehers wird durch die schwarzen Balken wieder aufgehoben und als Stillmittel kenntlich gemacht. Die Störungen werden durch die Kontrastierung mit der ansonsten perfekten Tricktechnik des Videos noch zusätzlich herausgestrichen. Ein komplexer Umgang mit den einzelnen medialen Ebenen von Form und Inhalt, Hard- und Software und deren technologisch bestimmter Ästhetik ist vor allem im Motiv des schreienden Fernsehers, der zugleich der stark verfremdete Performanceteil des Videos ist, festzustellen. Das Bild in diesem ist bereits ein abgefilmtes, wie an der groben Zeilenrasterung zu sehen ist, und wurde zusätzlich computertechnisch verzerrt. Zusätzlich wird es mit Störungen überlagert, die nur das Resultat von groben Eingriffen in die Fernsehelektronik sein können. Durch Schwenks, Zooms und entsprechende Schnitte tritt dieses Fernsehbild sowohl als bildfüllendes Element des Apparates des Zuschauers auf, als auch als Teil der Handlung, in der die Kinder den Fernseher herum tragen. Dies führt dem Zuschauer eine in Hinsicht auf die Kommunikationsstruktur identische Situation mit der alten Frau und den Kindern vor und schafft einen Bezug zum konkreten Rezeptionskontext, in dem potentiell Reaktionen auf das medial sich Abspielende möglich sind. Es wird die Freiheit, aus und mit dem medial Vermittelten machen zu können, was man will, suggeriert. Dies wird durch die Offenheit des Videos, das nicht im geringsten zur Identifikation mit den agierenden Personen einlädt, jedoch auch nicht wertend davon abhält, möglich.
sinnlose und entleerte Heiterkeit
Wiederholte, verklammernde und dynamisierende Motive sind das Entlangrattern von Stäben an Gittern durch die Kinder, ein Bild, das konventionellerweise in Kinofilmen für ausgelassene kindliche Heiterkeit steht und das hier in suggestiver Übereinstimmung mit dem schnellen Rhythmus der Musik einen Eindruck des sinnlosen, jedoch lustvollen Randalierens vermittelt, ebenso wie das Wasser, als einziges Naturelement in dem Clip: Zu Beginn geht der Hund der alten Frau durch eine Pfütze, die Kinder rennen durch eben eine solche und am Ende peitschen Wasserfontänen. Eine offensichtliche Referenz an subkulturelle Gruppierungen liefert das "ganghafte" Auftreten der Kinder, die in einem modernen mythischen Ort der Angst und der Gewalt, nämlich der Tiefgarage, die damit eine unterwelthaften Charakter annimmt, agieren. Solche Gruppen erscheinen der bürgerlichen Wahrnehmung oft als bedrohliche, archaische Kreaturen, die in Horden auftreten. Diese Nähe zur Subkultur wird auch dadurch noch vertieft, dass die Kinder sich einer den Menschen entstellenden Technik, die sie wie eine Trophäe vor sich her tragen, bemächtigen, ebenso wie durch eine implizierte interne Geheimkommunikation: Die Gesichtsausdrücke sind in ihrer neutralen Identität, die sich auch auf den Kopf im Fernseher und das Gesicht des abgemagerten Wesens erstreckt, ambivalent. Sie können innerhalb der Gemeinschaft und auch für den Zuschauer, der sich den Kreaturen nahe fühlt, eine grinsende oder sogar lächelnde Kommunikation sein, nach aussen jedoch eine bösartige, sardonische Einstellung vermitteln. Der Gefühlsausdruck der Künstlercharaktere ist auch bei dem Kopf im Fernseher und dem am Ende auftretenden Wesen nicht festlegbar. Er kann, je nachdem, als hämisches Grinsen, als Ausdruck der Verzweiflung oder als Schmerzens- oder Triumphschrei gedeutet werden. Diese Distanzierung von einem sich eindeutig expressiv vermittelnden Subjekt steht in einer Linie mit dem Anspruch von Kraftwerk, die in ihrer Kunst kein Ausdrucksmedium für Emotionen sahen, sondern ein Spiel mit der futuristischen Brechung des Entfremdeten. Nur gespiegelt in einem differenten, wertenden Gegenüber, nämlich imitiert im Gesicht des erschreckten Autofahrers, wird der Schrei des Kopfes im Fernseher in einen des Schreckens überführt.
der schreiende Fernseher
Technologie tritt in dem Clip in Form des weggeworfenen Fernsehers als jederzeit verfügbar auf, so als läge sie wie Abfall überall herum. Eine ähnliche Anspielung gibt es auch in dem Video "Where It's At" von Beck, in dem der sampelnde Künstler als Müllsammler auftritt. In "Come To Daddy" wird das Eindringen dieser überall präsenten Technologie in die Wahrnehmung und in die Wirklichkeit des Rezipienten, die als eine weitere mediale Ebene des Videos dargestellt wird, thematisiert. Diese Ausbreitung der Technologie hat zerstörerischen Charakter: Die soziale und lokale Wirklichkeit des Videos löst sich am Ende vollständig auf: Der lebensweltliche Bereich der Wohnblocks kippt durch einen technologischen Eingriff einer Kamerabewegung und wird von extremen Störungen überlagert, anschließend wird ein Wesen in reiner formaler Medialität mit der Nähe zum Abstrakten, völlig Entmenschlichten präsentiert. Das einzig harmonische Element des Videos, die Zeitlupenszene mit dem gesampelten Kinderlied fungiert als Präsentation einer idealtypischen Vorstellung von Kindheit. Durch den hohen Grad an medialer Materialisierung in "Come To Daddy" erscheint diese jedoch auch nur als medial konstruiert, nämlich durch Zeitlupe, die Kombination von süßlicher Musik und suggestiven Bilder von Schühchen, Rüschensöckchen und Händchenhalten und stellt einen wertfreien montierten Kontrast zu den gewalttätigen Kindern dar, besonders zu den direkt davor stattfindenden irritierenden Tanzbewegungen. Gleich danach stürzt der abgeschaltete Fernseher von oben ins Bild. Ab diesem Zeitpunkt ist das schreiende Gesicht nur noch als bildfüllendes Element zu sehen, ohne länger einen Bezug zu den Kindern zu haben. Dies leitet den endgültigen Übergang von einer narrativen, in einem konkreten sozialen Umfeld verankerten Darstellung zu dem reinen Formalismus der Schlusssequenz ein. Diese Tendenz bildet die Makrostruktur des Videos und wird durch das initiale Aufflackern des Fernsehers, das die alte Frau so sehr erschreckt, eingeleitet.
alles geht zu Bruch
Vom Fernseher vermittelt, geht über die Kinder und die technischen Störungen eine zunehmende inhaltliche und formale gewalttätige Zerstörung aus, die Personen, Identitäten und narrative Strukturen am Ende völlig überlagert und verdrängt. Vermittelt über diese von der Technik ausgehende Zersetzung kommt es zu einer weitgehenden formalen und inhaltlichen Überlagerung: Sowohl auf der Inhalts- als auch auf der Formebene geht alles zu Bruch.
(Niki Kopp)
Zuletzt aktualisiert am: 22.04.2002 © JavaJim 2002